03. Juni 2014
Olten, 03.06.2014. Übereilt und ohne die laufenden Abklärungen zum Notfallschutz abzuwarten, hat der Bundesrat die revidierte Jodtablettenverordnung Anfang Jahr in Kraft gesetzt. Das darin verankerte neue Verteilregime erhöht den Schutz der Bevölkerung nicht: Jodtabletten im Umkreis von 20-50 Kilometern um ein Kernkraftwerk neu an alle Haushalte direkt abzugeben statt sie wie bisher zentral zu lagern, verunsichert die Bevölkerung und ist basierend auf den neusten Gefährdungsanalysen des ENSI eher kontraproduktiv. Gerade bei Extremszenarien sind eine zentrale Lagerung sowie eine geschützte Lagerung in Schulen und Kindergärten effektiver. Deshalb erheben die Betreiber der Schweizer Kernkraftwerke Beschwerde gegen die revidierte Verordnung.
Die Jodtablettenverordnung regelt die Versorgung der Bevölkerung mit Kaliumiodid-Tabletten für den Fall einer Freisetzung von radioaktiven Stoffen. Bislang wurden Jodtabletten im Umkreis von 20 Kilometern um ein Kernkraftwerk an alle Haushalte, Schulen und Firmen verteilt. Für die weiter entfernte Bevölkerung wurden sie zentral gelagert. Die am 22. Januar 2014 in Kraft gesetzte Revision der Verordnung sieht neu vor, dass die Jodtabletten auch im Umkreis von 20 bis 50 Kilometern um ein Kernkraftwerk feinverteilt werden. Damit sollen die Tabletten neu an rund 4,3 Millionen statt wie bisher 1,2 Millionen Personen feinverteilt werden.
Sicherheit und Schutz der Bevölkerung haben oberste Priorität beim Betrieb von Kernkraftwerken. Deshalb anerkennen die Kernkraftwerksbetreiber die Bemühungen des Bundes, den Notfallschutz entlang der Empfehlungen der interdepartementalen Arbeitsgruppe des Bundes zur Überprüfung der Notfallschutzmassnahmen bei Extremereignissen (IDA NOMEX) zu stärken. Eine angemessene Bereitstellung von Jodtabletten ist daher unbestritten. Die Betreiber wehren sich jedoch dagegen, dass der Aufwand ohne Sicherheitsgewinn mehr als verdreifacht und die Bevölkerung verunsichert wird.
Überstürzte Inkraftsetzung
Die Revision enthält in verschiedener Hinsicht Mängel und wurde ohne stichhaltigen Grund übereilt in Kraft gesetzt:
- So hatte die Verwaltung ihre eigenen Grundlagenarbeiten für die Verteilung der Jodtabletten (Referenzszenarien) im Rahmen der IDA NOMEX noch gar nicht abgeschlossen, als die Verordnung in Kraft gesetzt wurde. Methodisch und inhaltlich korrekt gewesen wäre, zuerst die Resultate dieser Abklärungen abzuwarten.
- Die Stellungnahmen der Kernkraftwerksbetreiber wurden nicht angemessen geprüft. Die Kernkraftwerksbetreiber sind der Ansicht, dass der aktuellen Verordnung teilweise die Rechtsgrundlage fehlt und dass sie das in der Verfassung verankerte Verhältnismässigkeitsprinzip verletzt.
- Es bestand bei der Revision der Verordnung kein Zeitdruck. In der Zone 3 (20 km bis Schweizer Grenze) wurden die Tabletten erst 2010 ausgetauscht. Nur die Tabletten in den Zonen 1 und 2 (bis 20 Kilometer) laufen 2014 ab und müssen, trotz weiter bestehender Wirkung der Tabletten, ersetzt werden. Dieser Ersatz war und ist unbestritten.
- Ein weiteres Indiz für die schlecht vorbereitete Revision ist, dass sich die erste, zweite und finale Revisionsfassung in Bezug auf Verteilregime und Kostenverteilung erheblich unterscheiden.
Kontraproduktive Ausdehnung der Feinverteilung
Das neue Verteilregime ist sachlich nicht zu stützen. Der Schutz der Bevölkerung wird nur scheinbar erhöht, der Aufwand aber mehr als verdreifacht:
- Die Analysen des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI haben gezeigt, dass die Vorverteilung ausserhalb der bestehenden 20 km-Zone weder nötig noch verhältnismässig ist. Der Bundesrat hat in der Verordnung seine selber in Auftrag gegebenen Analysen nicht genügend berücksichtigt.
- Nur ein äusserst unwahrscheinliches Szenario mit einem Extremerdbeben könnte überhaupt eine Ausweitung der Verteilzone auf 50 Kilometer rechtfertigen. Aber gerade bei einem solchen Szenario wäre von der Zerstörung der meisten privaten Wohnbauten auszugehen. Der Zugriff auf die Jodtabletten wäre in den Trümmern kaum mehr möglich – erst Recht nicht im Zustand des Katastrophenschocks, in dem sich dann die meisten Menschen befinden dürften. Hingegen wären bei einer zentralen Lagerung sowie einer geschützten Lagerung in Schulen und Kindergärten der Zugriff und die Versorgung der betroffenen Bevölkerung weit eher sichergestellt. Die Vollversorgung der Bevölkerung durch eine Vorverteilung ist ein Trugschluss und dürfte sogar kontraproduktiv sein.
- Der Bundesrat hat Bedenken, dass zentral gelagerte Tabletten bei Bedarf vorschriftsgemäss innert 12 Stunden verteilt werden könnten. Es fehlt jedoch der Beleg, dass die Feinverteilung hier irgendwelche Vorteile bringt. So kann eine Verteilung in notfalls etwas mehr als 12 Stunden vorteilhafter sein als vorgängig feinverteilte Tabletten, die beispielweise in durch Erdbeben beschädigten Wohnungen gänzlich unauffindbar sind.
Widerspruch zur internationalen Praxis
Gemäss der Europäischen Kommission werden Jodtabletten in 14 Ländern vorverteilt, in einigen auch gar nicht. Dabei werden Zonen von 5 km, 10 km und 20 km verwendet. Die Schweizer Kernkraftwerke haben im EU-weiten Stresstest die Spitzenplätze belegt. Hierzulande ist der Austritt von radioaktivem Jod mit Auswirkungen in der Zone 20-50 Kilometer aus sicherheitstechnischen Gründen äusserst unwahrscheinlich, nicht zuletzt wegen der in den 90-er Jahren nachgerüsteten gefilterten Druckentlastung. Deshalb ist ausgerechnet in der Schweiz eine Verteilung über die übliche 20-Kilometer-Zone hinaus auch im internationalen Kontext nicht nachvollziehbar und kontraproduktiv.
Branche fordert seriöse Prüfung des Verteilregimes
Weil die Sicherheit der Bevölkerung sehr wichtig ist, müssen die Bereitstellung und Verteilung der Jodtabletten ohne Zeitdruck geprüft werden. Nachdem die revidierte Jodtablettenverordnung aber verabschiedet ist, bleibt der Branche nur noch der Rechtsweg.
Für weitere Auskünfte: Patrick Jecklin, Tel. 062 205 20 14, patrick.jecklin(at)swissnuclear.ch
swissnuclear ist die Fachgruppe Kernenergie der swisselectric (www.swisselectric.ch). swissnuclear setzt sich aus Vertretern der schweizerischen Stromverbundunternehmen Alpiq, Axpo, BKW, CKW und EGL zusammen. Sie engagiert sich für den sicheren und wirtschaftlichen Betrieb der Kernkraftwerke in der Schweiz. Die Mitglied-Unternehmen betreiben die Schweizer Kernkraftwerke Beznau, Gösgen, Leibstadt und Mühleberg, die rund 40% des Strombedarfs der Schweiz produzieren. Mit der Zwilag und der Nagra sind die Mitglied-Unternehmen an Gesellschaften beteiligt, die sich für eine umwelt- und sachgerechte Entsorgung der radioaktiven Abfälle einsetzen.